Ein Film von Xaver Dolan / Kanada 2014, 139 Min.
Berlin – Eine abwegige Vorstellung vielleicht, aber eine, die sich bei diesem Film aufdrängt: Wie sähe ein Film über eine leidenschaftliche Verbindung zwischen einer alleinerziehenden Mutter und ihrem halbwüchsigen Sohn im deutschen Zielgruppen-Kino aus? Sinnlos, darüber nachzudenken: Es gäbe ihn gar nicht. In einer ideologisch auf die Mutter-Vater-Kinder-Familie geeichten Film- und Fernsehproduktions-Landschaft kann eine derartige Beziehung nur als Schreckbild inszeniert werden, wenn überhaupt. Wann immer von alleinerziehenden Müttern und ihren Kindern die Rede ist, muss es eine Elends-Demonstration sein, da sind keine Figuren zu sehen, sondern Beweisstücke.
– Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/2679756 ©2017
In „Mommy“ versuchen ein gewalttätiger Teenager und seine überforderte Mutter, sich als Kleinfamilie neu zu erfinden. Xavier Dolan liefert ein Kinoerlebnis voll umwerfender Pop-Momente – einer der Filme des Jahres.
Drei, vier, fünf Sekunden dauert Steves Kuss auf den Mund seiner Mutter. Zu lang und zu intensiv, als dass er dem 15-Jährigen als unbedacht übermütiger Akt verziehen werden könnte. Und doch ist etwas an diesem Kuss, das die Mutter genießen kann und dem sie hinterhertrauert, als er schließlich vorbei ist.
Wie dieser Kuss ist auch Xavier Dolans fünfter Film „Mommy“: Zu lang, zu intensiv, halb Übergriff, halb Zärtlichkeit – und genau deshalb ein Triumph, an dessen Ende man sich fragt, warum man sich im Kino eigentlich so häufig mit weniger zufriedengibt.
Nach dem Tod seines Vaters ist der mit ADHS diagnostizierte Steve (Antoine-Olivier Pilon) fast drei Jahre lang von Jugendheim zu Jugendheim verschoben worden. Als er in einer Cafeteria zündelt und einen anderen Jungen lebensgefährlich verletzt, ist das nächste Jugendheim keine Option mehr, nun steht psychiatrische Verwahrung an. Doch das will ihm seine Mutter Die (Anne Dorval) nicht zumuten. Obwohl sie kaum genug Geld für sich selbst aufbringen kann, nimmt sie den Jungen wieder bei sich auf.